Unsere COVID-19-Geschichte
"Auch wenn sie uns nicht antwortet, habe ich das Gefühl, dass sie uns hören kann."
Eine Tochter gibt Einblick in den schweren Krankheitsverlauf ihrer Mutter, welche sich mit dem COVID-19-Virus infiziert hatte. Sie erzählt, wie sich das Leben der Familie innerhalb kürzester Zeit schlagartig verändert hat und welche Sorgen, Ängste aber auch Hoffnung sie während dieser unvorhersehbaren Zeit begleitet haben.
November, 2020
Seit zwei oder drei Tagen geht es meiner Mutter nicht gut. Ich bin mit ihr auf dem Weg in ein Spital in der Westschweiz. Sie klagt über Schmerzen im Bein und beim Arztbesuch vor ein paar Tagen hat der Arzt sogar den Verdacht geäussert, es könnte sich um eine Thrombose handeln. Soeben hat uns die zweite COVID-19-Welle erreicht und meine Mutter hätte es lieber, wir müsste nicht in das Spital gehen; Sie hat Angst, sich mit dem Virus zu infizieren. Sie war sehr schwach, als ich sie abgeholt habe, sie hat nicht mehr richtig gegessen und zudem bereitet ihr das Atmen Mühe. Ich befürchte, dass sie eine Lungenembolie hat.
Nach mehreren Untersuchungen und einem COVID-19-Schnelltest im Spital schickt mich der Arzt nach Hause. Meine Mutter muss vorerst bleiben, ihr Schnelltest war positiv und sie hat 39,6 Grad Fieber. Der PCR-Test zwei Tage später ist ebenfalls positiv und bestätigt ihre COVID-19-Infektion, ich erhalte die Nachricht per Telefon von meiner Mutter. Sie hatte ihr Handy in das Spital mitgenommen und die Ärzte haben mir zusätzlich auch eine Rufnummer gegeben, mit der ich sie jederzeit direkt erreichen kann. Ich erfahre, dass meine Mutter sehr erschöpft ist, sie schläft viel und hat nur wenig Sauerstoff zum Atmen, aber den Umständen entsprechend geht es ihr gut.
Am darauffolgenden Sonntag, den 15. November, erreiche ich gegen 11:00 Uhr meine Mutter auf dem Handy an und sie erzählt mir, dass sie noch ausreichend Luft zum Atmen bekomme, die Schmerzen so gut wie weg sind und sie nun etwas Schlaf brauche. Ich freue mich und wünsche ihr eine gute Erholung und verabschiede mich bis zum Nachmittag, dann werde ich mich nochmals bei ihr melden.
Als ich um 16:00 Uhr wieder anrufe, geht die Pflegefachfrau an das Handy meiner Mutter. Sie teilt mir mit, dass meine Mutter soeben intubiert und in das künstliche Koma versetzt wurde. Mit solch einer Nachricht habe ich nicht gerechnet und ich spüre, wie sich eine Unruhe in mir ausbreitet. Gleich am darauffolgenden Tag mache ich mich auf den Weg ins Spital, obwohl nach wie vor kein Patientinnen- oder Patientenbesuch möglich ist. Ich habe ein paar Familienfotos für das Personal dabei für den Fall, dass meine Mutter aufwacht.
Angekommen im Spital, möchte mich eine Pflegefachfrau aus der Intensivstation sprechen, also mache ich mich auf den Weg zu ihr. In einem Gespräch erklärt sie mir den Verlauf der Ereignisse und die Gründe, weshalb meine Mutter intubiert werden musste: Sie war zu schwach, um selbstständig zu atmen und es bestand die Gefahr, dass ihre Organe nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden würden. Um sich zu erholen, hatte meine Mutter sich dafür entschieden, sich intubieren zu lassen. Trotz der unerwarteten Entwicklung der Ereignisse bin ich nach dem Gespräch etwas beruhigter.
In den nächsten Tagen rufe ich mehrmals täglich im Spital an und ich erhalte trotz der hohen Belastung des Behandlungsteams Auskunft über den Zustand meiner Mutter, die ich auch meinem Bruder und meinem Vater weitergeben kann. Ein Arzt auf der Station schlägt uns zudem vor, unsere Mutter täglich für ein paar Minuten anzurufen, damit die Pflegefachfrau das Telefon an ihr Ohr halte kann und sie unsere Stimmen hört. Diesen Vorschlag setzen wir um.
Drei Tage später ruft mich abends gegen 20:00 Uhr eine Pflegefachfrau an und teilt mir mit, dass meine Mutter in ein anderes Spital verlegt werden muss. Das Spital, in dem sie sich zu dem Zeitpunkt befindet, ist vollständig ausgelastet. Da unsere Mutter die stabilste Person auf der Intensivstation ist, wird sie in ein Spital in der Deutschschweiz gebracht. Für mich sind das keine guten Nachrichten, aber mein Bruder versucht mich mit der Tatsache zu beruhigen, dass es in die Deutschschweiz im Vergleich zur Romandie zu dem Zeitpunkt viel weniger COVID-19-Patientinnen und -Patienten in den Spitälern gibt und das Pflegepersonal weniger ausgelastet ist und so mehr Zeit hat, sich um unsere Mutter zu kümmern.
Ich befürchte, dass ich das Pflegepersonal nicht verstehen würde, da ich kein Deutsch spreche und habe Angst, dass wir unsere Mutter vielleicht nicht mehr täglich anrufen können. Aber meine Besorgungen sind umsonst, alle Angestellten im neuen Spital sprechen Französisch und nehmen sich viel Zeit, uns über den Gesundheitszustand unserer Mutter aufzuklären. Sie ist nach wie vor intubiert, doch ihr Zustand ist stabil.
Es vergehen vier oder fünf weitere Tage und unsere Mutter liegt immer noch im Spital in der Deutschschweiz. Die Leiterin der Intensivstation schlägt mir vor, dass ich für einen Besuch im Spital vorbeikommen soll. Ein persönliches Gespräch vor Ort soll dabei helfen, dass wir uns besser kennenlernen und ich mehr Informationen über das Leben unserer Mutter und unserer Familie mit den Angestellten teilen kann. Als ich im Spital ankomme, stellt mich ein Arzt den anderen Ärztinnen, Ärzten, Pflegefachpersonen vor, die meine Mutter betreuen. Alle sind sehr freundlich und nehmen sich viel Zeit für ein Gespräch mit mir. Ich habe ausserdem persönliche Bilder und Zeichnungen mitgebracht, die neben dem Bett meiner Mutter aufgehängt werden können, für den Fall, dass sie aufwacht.
Jeden Abend rufen wir, mein Bruder, mein Vater und ich, unsere Mutter an und wünschen ihr eine gute Nacht. Der Arzt bestärkt uns, damit weiterzumachen, da der telefonische Kontakt besonders in einer Zeit, in der persönliche Besuche verboten sind, wichtig sei. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie uns hören kann, denn manchmal kommt es vor, dass sie eine kleine Reaktion auf unsere Anrufe zeigt.
Es vergehen weitere zehn Tage, in denen sich nach wie vor nichts verändert. Ein Professor und mehrere freundliche Ärztinnen und Ärzte informieren uns jeden Tag ausführlich über den Gesundheitszustand unserer Mutter. Wenn sich die Situation noch etwas verbessert, werden sie sie vielleicht bald extubieren können.
Nach weiteren vier Tagen erhalten wir am Samstagnachmittag einen Anruf von einem Arzt, der uns über die Entfernung des Schlauchs bei unserer Mutter informiert. Laut dem Arzt geht es unserer Mutter gut, sie schläft immer noch viel, aber manchmal öffnet sie für eine kurze Zeit ihre Augen. Sie spricht nach wie vor noch nicht, und dies ändert sich auch in den darauffolgenden Tagen nicht.
Kurze Zeit später fahre ich erneut in die Deutschschweiz, um nochmals mit den Ärztinnen und Ärzten vor Ort zu sprechen. Unsere Mutter zeigt nach wie vor keine Reaktion und das ist nicht normal. Während dem Gespräch wird mir bewusst, dass die Ärztinnen und Ärzte des Spitals meine Mutter gar nicht kennen, da sie bereits im Koma war, als sie zu ihnen gebracht wurde. Ich erzähle ihnen also mehr aus dem Leben unserer Mutter und unserer Familie, so dass die zuständige Pflegefachfrau mit ihr sprechen und ihr Fotos zeigen kann, in der Hoffnung, dass sie vielleicht darauf reagieren würde.
Obwohl wir keine Antwort erhalten, sprechen wir nach wie vor täglich mit ihr via Telefon. Die Mitarbeitenden des Spitals nehmen sich viel Zeit für uns und versuchen, auch unseren Bedürfnissen gerecht zu werden. Darüber sind wir ihnen sehr dankbar und es gibt uns die Gewissheit, dass unsere Mutter in guten Händen ist. An dieser Stelle nochmals herzlichen Dank an alle Mitarbeitenden des Spitals!
Kurz darauf beschliessen die Kantone der Romandie, alle COVID-19-Patientinnen und -Patienten in die eigenen Krankenhäuser zurückzuholen. So wird auch unsere Mutter wieder zurück in unserer Stadt verlegt und ihr Aufenthalt in der Deutschschweiz neigt sich dem Ende zu. Wir hätten sie gerne noch eine Weile dort behandeln lassen, aber das ist nicht unsere Entscheidung.
Als sie im Spital in unserer Stadt ankommt, muss sie dort noch für eine längere Zeit bleiben. Sie ist nun schon seit 29 Tagen COVID-19 positiv und befindet sich in der Abteilung für positiv auf COVID-19 getestete Patientinnen und Patienten. Ein Besuch ist also nach wie vor nicht möglich. Es sind nun schon mehr als drei Wochen vergangen, seitdem wir unsere Mutter nicht mehr gesehen haben. Ihr Zustand hat sich leider noch nicht verbessert. Sie spricht und bewegt sich nicht, einzig wenn sie uns am Telefon hört, zeigt sie eine kleine Reaktion.
Nachdem der Arzt und ich bereits einige Gespräche miteinander geführt hatten, erlaubt er mir einen Besuch bei meiner Mutter. Diese Möglichkeit freut mich sehr und schon am nächsten Tag kann ich zu ihr fahren. Wie eine Ärztin gekleidet und mit gründlich desinfizierten Händen bringt mich die Pflegefachfrau in das Zimmer meiner Mutter. Nachdem die Pflegefachfrau ihr sagt, dass ich da bin, dreht sich meine Mutter um und greift nach meiner Hand. Ich schaue sie an und sehe, dass ihre Lippen völlig lädiert sind von der Intubation und sie noch an unzähligen Schläuchen angehängt ist.
Mit weit aufgerissenen Augen liegt sie vor mir. Ich spreche mit ihr, sie blinzelt als Reaktion. Ich merke, dass sie mich wieder erkennt und zeige ihr auf dem Handy Bilder von meinem Bruder, meinem Vater und unserer Katze. Meine Mutter bewegt die Hände, als wolle sie sie alle festhalten. Während ich mit ihr rede, betone ich nochmals, wie wichtig es ist, dass sie mit dem Personal vor Ort kooperiert, und dass sie keine Angst haben muss. Nach einer halben Stunde mache ich mich langsam wieder auf den Weg, da ich mich nochmals mit dem Arzt treffe. Ich bin erleichtert.
Am nächsten Morgen ruft mich die Krankenschwester an und teilt mir mit, dass mein Besuch Gutes bewirkt hatte: Beim Waschen hat meine Mutter sogar ihre Arme ausgestreckt, um ihr Hemd auszuziehen; ein kleiner Fortschritt und ich habe das Gefühl, sie hat mir am Vortag tatsächlich zugehört. Am darauffolgenden Tag schlägt mir der Arzt einen erneuten Besuch vor, diesmal zusammen mit meinem Bruder. Da mein Vater COVID-19 positiv ist, kann er noch nicht mitkommen.
Mein Bruder ist sehr glücklich über das langersehnte Wiedersehen. Unsere Mutter scheint sehr aufgeregt zu sein, worauf uns der Arzt erklärt, dass Patientinnen und Patienten nach einer langen Intubation und einem Koma oftmals noch etwas traumatisiert und unruhig sind.
Ein paar Tage später können wir sie erneut besuchen, diesmal mit unserem Vater. Zu unserer grossen Freude sind er und unsere Mutter beide negativ auf COVID-19 getestet worden. Das erleichtert die Situation sehr. Mein Vater ist voller Vorfreude und hegt gleichzeitig die Hoffnung, dass er unsere Mutter für die anstehenden Weihnachtstage mit nach Hause nehmen kann. Das wird jedoch nicht möglich sein, da sie nach wie vor über eine Nasensonde ernährt wird und auch noch nicht aufstehen kann. Sie ist noch immer sehr schwach. Ich höre, wie unsere Mutter leise sagt: "Ich werde uns das Weihnachtsfest kaputt machen". Auch wenn diese Aussage eigentlich traurig ist, freuen wir uns trotzdem ein wenig, dass sie geredet hat.
Da die Anzahl eingewiesener COVID-19 positiver Patientinnen und -Patienten im Spital wieder zunimmt und mehr Platz geschaffen werden muss, wird meine Mutter kurzfristig in ein anderes Spital verlegt, in dem sich nur Patientinnen und Patienten ohne COVID-19-Erkrankung. Die Situation dort ist trotzdem äusserst kompliziert, denn es fehlt an Personal.
In der Zeit beginnt unsere Mutter mit Physiotherapie, erhält Massagen und macht kleine Fortschritte. Das Personal versucht ihr täglich einen Teelöffel Wasser zu geben, um zu sehen, ob sie schlucken kann. Nach einer Weile versuchen sie das gleiche mit etwas Püree, bevor sie schliesslich selbständig zu trinken und einige Sätze zu sprechen beginnt. Jeder weitere Tag, der vergeht, ist ein kleiner Schritt in Richtung Normalität. Mittlerweile ist auch ein täglicher Besuch von 30 Minuten möglich. Mein Bruder, mein Vater und ich wechseln uns gegenseitig mit den Besuchen ab.
Es vergehen drei weitere Wochen in diesem Spital. Wir rufen sie täglich per Videoanruf an, damit sie uns alle sehen kann. Auch beim Sprechen macht sie Fortschritte; Sie regelmässig in die Sprechtherapie. Inzwischen kann sie sogar selbständig das Telefon abnehmen. Derweil sind wir daran, zu Hause einige Arbeiten zu erledigen. Beispielsweise ist ein neues, gut ausgestattetes Badezimmer notwendig, damit unsere Mutter nach Hause kommen kann. Um diese Arbeit kümmert sich mein Bruder, während mein Vater und ich das Innere des Hauses umstellen, damit es für sie einfacher zugänglich wird.
Nach rund drei Monaten im Spital ist es endlich soweit und meine Mutter kann nach Hause zurückkehren. Wir sind alle sehr froh, sie wieder bei uns zu haben, auch wenn sie noch für eine Zeit lang auf Hilfe angewiesen sein wird. Im September 2021, also bald ein Jahr nach Einlieferung in das Spital, kann unsere Mutter wieder kochen, sich um die Tiere und Blumen kümmern, Wäsche machen und weiteren Tätigkeiten nachgehen. Es wird noch eine Weile dauern, bis sie wieder ganz normal gehen kann, aber sie wird es schaffen. Sie ist positiv gestimmt und voller Zuversicht!
Wir sind allen Ärztinnen und Ärzten, Krankenschwestern und Pflegenden sehr dankbar für ihre Arbeit und ihre Unterstützung währen der gesamten Zeit. Dank ihnen hat unsere Mutter ihre Erkrankung überstanden. Es ist für uns Angehörige ein grosses Glück gewesen, so umsorglich betreut zu werden. Unsere ganze Familie ist sehr stolz auf unsere Mutter und auf alle weiteren Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen, die dasselbe durchgemacht haben.